Insbesondere Migrantinnen und Migranten aus totalitären Ländern, die in Österreich eine zweite Heimat gefunden haben, sollten den Jahrestag von Hannah Arendt zum Anlass nehmen, ihre Werke (wieder) zu studieren. Es geht dabei nicht nur darum, sie zu würdigen – ihr Platz in der Geschichte und im kollektiven Gedächtnis ist längst gesichert. Und es geht auch nicht darum, die Geschichte bloß neu zu lesen. Meiner Meinung nach geht es darum, ihre zentralen Erkenntnisse und Einsichten besser zu verstehen. Viele davon sind zeitlos. Manche von uns haben in ihrer ersten Heimat selbst erlebt, wovor Arendt gewarnt hat.
Wenn sie schreibt: „Gewöhnliche Menschen können größte Verbrechen begehen, wenn sie nicht denken und blind gehorchen“, – wie recht sie hatte. Ein kurzer Blick auf die Vergangenheit im Irak unter Saddam Hussein oder auf die Gegenwart im Iran zeigt das schmerzhaft. Wenn sie vor den Gefahren von Ideologien warnt, denke ich sofort an die vom eigenen Volk gestürzte rumänische Diktatur, an die ISIS – und vor allem an die religiösen Machthaber im Iran.
Hannah Arendt war eine außergewöhnliche Denkerin. Ich bin dankbar, dass sie die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes überlebt hat und uns dieses geistige Vermächtnis hinterlassen konnte.
Die jüdische Gemeinde hat viele international anerkannte Philosophinnen, Wissenschaftler und Intellektuelle hervorgebracht. Auf dem politischen und gesellschaftlichen Parkett war Arendt in meinen Augen eine der bedeutendsten Denkerinnen des Jahrhunderts. Minderheiten haben in diesem Land wesentlich zu Fortschritt und Freiheit beigetragen. Das sollten wir anerkennen – und laut, klar und ohne Zögern bekräftigen: „Antisemitismus hat keinen Platz bei uns.“
Wir werden daran gemessen, wie wir die Rechte von Minderheiten schützen und verteidigen.
Eine zweite wichtige Lehre, die wir von ihr – und von der Geschichte in meiner ersten und in meiner neuen Heimat Österreich – ziehen sollten, ist:
Demokratie braucht Menschen, die denken, die mitgestalten wollen und die Verantwortung übernehmen. In Österreich darf jede Person ihre Meinung äußern und sich für ihre Ideale einsetzen, ohne Angst vor Verfolgung haben zu müssen. Dafür bin ich sehr dankbar. Doch leider gibt es immer wieder Strömungen, die diese Errungenschaften infrage stellen oder gar rückgängig machen wollen. Gerade dann sind wir alle gefordert, zu denken – so, wie Hannah Arendt es uns heute raten würde, wenn sie unter uns wäre.
Wenn der erste Schritt getan ist und wir beginnen zu denken, wird der zweite Schritt – das Handeln – fast automatisch erfolgen. Durch unser Handeln verteidigen wir die Freiheit und die Demokratie in unserem Land. Die Summe der Einzelnen ist unsere Erfolgsgarantie. Schweigen hilft nur jenen Strömungen, die mit schönen Worten auftreten, Probleme verzerren und uns gegeneinander ausspielen wollen.
Hand in Hand – auch kleine Schritte und Taten zählen. Die reife und mutige Zivilgesellschaft in Österreich wird diese Errungenschaften verteidigen und weiter verbessern.
